Psychotherapie und Beratung: Bulgarisch ist Ihre Muttersprache?

Sie leben in Wien und haben Ihre Wurzeln in Bulgarien?

In Wien leben fast 20.000 Menschen mit bulgarischer Staatsbürgerschaft.

Ich spreche die zweite und dritte Generation an. Warum?

Ich möchte mich einer Zielgruppe widmen, die oft übersehen wird. Das sind jene Menschen, die in zweiter oder dritter Generation in Österreich leben, hier sozialisiert sind und Sprachbarrieren eigentlich kein Thema sind. Ihre ursprünglichen Wurzeln werden sogar manchmal übersehen. Wieso ist mir das so wichtig?

Weil jeder Teil Ihrer Persönlichkeit und Identität für mich wesentlich ist!

Die große Bedeutung der „Muttersprache“

Unsere Psyche ist komplex aufgebaut, so wie jedes individuelle Gefühl und Problem. Obwohl die deutsche Sprache womöglich perfekt gesprochen wird, ist die Muttersprache dennoch eine andere. Dies hat eine größere Bedeutung, als Sie vielleicht im ersten Augenblick erwarten.

Fluchen Sie auch in der „Primärsprache“, also die „Muttersprache“?

Ein simples Beispiel aus dem Alltagsleben: Jeder, der zweisprachig aufgewachsen ist wird wohl die Situation kennen. Sie sitzen im Auto, Sie haben es eilig, vielleicht sind Sie wegen eines Streites der davor mit einem lieben Menschen stattgefunden hat, etwas angespannt. Nun kommt ein/eine andere/r Autofahrer*in  und schneidet Ihnen achtlos den Weg ab. Sie werden wütend, erschrecken sich, weil Sie bremsen müssen. Dabei schreien Sie auf und fluchen.

Welche Sprache kommt Ihnen da über die Lippen? Es wird oft Ihre Muttersprache sein.

Die spontane und offene Wut wird gezeigt. Sie sind geschützt in Ihrem Auto und Sie lassen Ihren Gefühlen freien Lauf. Plötzlich kommt Ihnen dieses eine „böse Wort“ über die Lippen das Ihr Onkel immer beim Fußballspiel schrie während Sie noch ein Kind waren. Ihnen fällt auf einmal eine ganze Szene Ihrer Kindheit ein.

Die Einbindung der Muttersprache „bulgarisch“ ist sehr wichtig.

Vielleicht können Sie sich jetzt vorstellen, wieso die Einbindung der Muttersprache in der Psychotherapie so wichtig ist. Das Instrument einer psychotherapeutischen Arbeit ist vor allem die Sprache. Nun besitzen Sie, als zweisprachig aufgewachsener Mensch, den doppelten Wortschatz um ein Gefühl, eine Erinnerung oder eine momentane Situation zu beschreiben.

Schon in der deutschen Sprache gibt es unzählige Redewendungen. Zahlreiche Unterschiede sind alleine zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz zu entdecken. Wortspielereien, die in einem Kulturkreis eine klare Bedeutung haben, ergeben in einem anderem keinen Sinn mehr. Redewendungen und Metaphern sind fast immer schwer zu übersetzen. Sie beinhalten nicht nur einen emotionalen Ausdruck, sondern auch einen kulturellen Hintergrund mit dem wir uns, mal mehr mal weniger, identifizieren. Diese sind wiederum für unsere Emotionen und Handlungsweisen entscheidend. Situationen können dann doch manchmal leichter durch die Redewendung von der Oma erklärt werden.

Eine Kultur hält sich nicht an Staatsgrenzen.

Doch nicht nur die (Mutter)sprachliche Barriere kann hier entscheidend sein, sondern auch die kulturelle. Eine Kultur hält sich nicht an Staatsgrenzen. Diese gehen oft darüber hinaus. Wenn sich Menschen mit bosnischen, serbischen, mazedonischen und bulgarischen Wurzeln zusammensetzen finden diese oft gemeinsame Themen wie Essen, ähnliche familiäre/erzieherische Strukturen und Wörter/Ausdrücke.

Die Schwierigkeiten der sogenannten „zweiten Generation“ besteht darin, zwei oder mehrere kulturelle Einflüsse miteinander in Einklang zu bekommen. Was in Bulgarien völlig in Ordnung ist, kann in Österreich befremdlich wirken und umgekehrt. Da kann schnell Druck entstehen, sich für eine „Seite“ entscheiden zu müssen. Oder Sie spielen kulturelles Pingpong, je nachdem wo und mit wem Sie sich befinden. Das kann auf Dauer sehr ermüdend werden.

 

Identitätsfragen können auftauchen …

  • Bin ich Bulgare/Bulgarin oder bin ich Österreicher*in?  
  • Welcher Mentalität gehöre ich zu?  
  • Darf ich mich beiden Nationen zugehörig fühlen?
  • Wie kann ich zwei gegensätzliche Ansichten in mir vereinen?

 

… und Ängste und Verunsicherungen erscheinen

  • Ich fühle mich nirgends ganz zugehörig
  • Meine Eltern sehen mich nicht mehr als Bulgare/Bulgarin an.
  • Mit der österreichischen Staatsbürgerschaft bin ich kein/e Bulgare/Bulgarin mehr

 

Aus meiner Sicht wichtig: Therapeut*in und Klient*n kennen dieselben kulturellen Strukturen

Ich habe beobachtet, dass die psychotherapeutischen Gespräche von einem geteilten kulturellen Kontext profitieren. Damit kann eine bessere und stabilere Beziehung zum Psychotherapeuten entwickelt werden. Denn damit zeigen Sie nicht nur verschiedenen Nuancen Ihrer Persönlichkeit, sondern es bietet sich eine Gelegenheit an Emotionen und Erinnerungen zu gelangen, die Ihnen so noch nicht bewusst waren. Je nachdem welche Sprache Sie verwenden, verändert sich der emotionale Kontext des Gesagten, und ja, sogar des Gefühlten.

Denn eine gemeinsame Sprache zu sprechen, bedeutet nicht immer dieselben Worte zu verwenden.

Bei Interesse: „Kommunismus in Bulgarien. Psychische Auswirkungen der historischen Ereignisse zwischen 1944 und 1989“ Andrea Arabadjieva